Ariel

Wechsel vom Bett in Bodenpflege (2 Mattratzen auf dem Boden umgeben von einer gepolsterten Holzwand), wir konnten ihn das erste Mal wieder im Arm halten! Endlich wieder Kuscheln.

Eine Kurzversion von Ariels Geschichte finden Sie unter „Meilensteine“ am Ende dieser Seite.

Wie alles begann

Es war Februar 2019 und wir waren mitten in der ganz normalen Grippesaison – eigentlich nichts Spezielles. Die Grippe hatte ein Familienmitglied nach dem anderen erwischt. Zuerst uns Eltern und dann die drei Jungs. Der Jüngste, der vierjährige Ariel, hat am längsten widerstanden, aber zu guter Letzt hat es ihn auch noch erwischt. Er hatte drei Tage lang hohes Fieber, das sich kaum senken liess.
Am vierten Tag, es war ein Samstag, war das Fieber plötzlich weg und es ging ihm morgens schon deutlich besser. Wir dachten, dass jetzt das Schlimmste überstanden ist und bald alle wieder fit sind.
Um die Mittagszeit fiel uns auf, dass Ariel so seltsame kleine Schrittchen machte. Er hat die Füsse kaum vom Boden abgehoben und sie nur wenig nach vorne geschoben. Als wir ihn fragten, weshalb er so seltsam geht, erhielten wir keine Antwort. Irgendwann haben wir realisiert, dass ihm das Gleichgewicht Mühe zu machen scheint und haben ihm jeweils die Hand gereicht zum Gehen. Wir dachten, dass ihm vielleicht einfach etwas schwindlig ist, da er von der Grippe geschwächt ist. Er lag in eine Decke gewickelt auf dem Sofa, als seine Brüder gegen Abend hin TV schauen wollten. Ich fragte Ariel, ob er ihnen Gesellschaft leisten wolle. Dann würde ich ihn ins obere Stockwerk tragen. Auf diese Frage gibt es normalerweise nur eine Antwort: «ja». Aber ich musste mehrmals fragen und auf einer Antwort bestehen, bis ich dann endlich eine erhielt. Es waren drei Worte: «hoch, mit Decke». Wie sich später herausstellte, waren das für eine ganze Weile die letzten Worte, die wir von ihm hören sollten.

Ariel war total erschöpft von der Grippe – dachten wir. Selbst wenn er auf der Toilette sass, mussten wir ihn stützen, weil er sonst seitlich runtergekippt wäre. Also haben wir ihn ins Bett gebracht. Er sollte sich so richtig ausschlafen und erholen können. Am nächsten Morgen würden wir dann schauen, wie es ihm geht und dann entscheiden, ob wir einen Arzt aufsuchen sollen. Um ihn auch in der Nacht «überwachen» zu können, schlief er auf einer Mattratze neben unserem Bett. Gegen vier Uhr früh bin ich erwacht, weil Ariel so unruhig war. Als ich nach ihm schaute merkte ich, dass er eingenässt hatte. Das hatte mich erstaunt, weil es schon lange her war, dass ihm das passiert ist. Also einmal frisch machen und dann wieder ins Bett.
Aber an Schlafen war nicht mehr zu denken. Längst hatten sich in meinem Kopf die Räder in Bewegung gesetzt. «war er so unruhig, weil er eigentlich auf die Toilette gehen wollte, aber nicht konnte? Hat er mir deshalb nicht geholfen sich aufzusetzen etc, weil er nicht konnte? Was könnte denn der Grund sein? Können eigentlich auch Kinder Schlaganfälle kriegen?». Ich griff zu meinem Mobiltelefon und begann im Internet nach Antworten zu suchen. Mein Mann tat es mir gleich. Meine Suche nach Schlaganfällen bei Kindern ergab, dass keine Zeit zu verlieren sei. Aber waren das wirklich
die Anzeichen eines Schlaganfalls? So ganz hat es nicht gepasst. Mein Mann ist bei seiner Suche tatsächlich über ANE gestolpert (ein Dank an dieser Stelle an ANE International, die helfen, diese Krankheit bekannt und u.a. im Internet auffindbar zu machen). «Nein, DAS darf es nicht sein», dachte
er und suchte weiter. Mir hatte er erst später davon erzählt, weil er mich nicht unnötig beunruhigen wollte.

Irgendwann habe ich die Ungewissheit und das ungute Gefühl nicht mehr ausgehalten. Also haben wir uns angekleidet und schnell ein paar Kleider und Dinge für die älteren Brüder in eine Tasche geworfen. Sonntagmorgen kurz vor 6 Uhr ein Anruf bei meinen Eltern, dass wir in wenigen Minuten Ariels Brüder bei ihnen abladen würden, weil wir mit Ariel ins Spital müssen. Wir haben alle Kinder im Pijama ins Auto gesetzt und sind los.

Notfallstation

Um 6.30 Uhr sind wir auf dem Notfall angekommen. Wir sind nicht als sonderlich dringlich eingestuft worden und mussten erst einmal warten. Eine gefühlte Ewigkeit warten. Wahrscheinlich waren es nur ca. 10 Minuten. Schliesslich durften wir in ein Zimmer und ein Arzt, der kurz davor war seine
Schicht zu beenden, warf einen ersten kurzen Blick auf Ariel und überprüfte, dass es keine Hirnhautentzündung ist. Auch er stufte den Fall als nicht dringend ein. Er war der Meinung, dass es wahrscheinlich nichts Neurologisches sei und weil seine Schicht um 7 Uhr zu Ende sei, würde dann
gleich seine Kollegin Ariel genauer untersuchen. Eine weitere gefühlte Ewigkeit später kam die junge Ärztin und untersuchte ihn. Sie hatte relativ schnell den Verdacht, dass es durchaus eine neurologische Ursache haben könnte. Weil sie am Wochenende in diesem Spital keinen
Neuropädiator im Haus hätten, würde sie Ariel gerne mit der Ambulanz ins Kinderspital überführen lassen. Also organisierte sie den Transport und wir warteten darauf, dass uns die Ambulanz vom Kinderspital abholen kommt. Ariel erhielt mit einem Strohhalm etwas Isostar zu trinken, damit er
nicht dehydriert. Ja, da konnte er noch trinken.
Unser «Taxi» war eingetroffen. Ich durfte mit Ariel mit der Ambulanz mitfahren, mein Mann folgte dem Krankenwagen mit unserem Auto. Die abholende Ärztin wies an, mit Blaulicht und Sirene zu fahren. Ich war etwas erstaunt über die plötzliche Dringlichkeit. Ich hatte den Ernst der Lage noch nicht begriffen. Während mein Mann mit einem flauen Gefühl im Magen sich einmal quer durch die Stadt Zürich kämpfte – die Ambulanz hatte ihn logischerweise längst abgehängt – konnte ich zusehen, wie Ariel immer schläfriger wurde. Ich dachte: «ist schon gut, schlaf ruhig und erhole dich». Auch wenn die begleitende Ärztin ein gutes Pokerface hatte, merkte ich mit der Zeit schon, dass sie das nicht so positiv einstufte wie ich. Sie hatte den Verdacht, dass er dabei war in einen komatösen Zustand zu driften. Sie beschloss im Kinderspital anzurufen und liess einen Schockraum vorbereiten. Das bedeutet, dass aus allen medizinischen Fachrichtungen eine Fachperson anwesend ist und alle zusammen diskutieren und überlegen, was zu tun ist. Kaum beim Kinderspital angekommen wurde Ariel auch direkt in diesen Schockraum gebracht, wo schon alle versammelt waren. Ich musste draussen auf dem Korridor warten, wo sich dann auch mein Mann wieder zu mir gesellte. Wieder warten.

Nach einer ganzen Weile wurde der Schockraum aufgelöst. Als erstes werde ein Schädel-CT gemacht. Ariel ist am Abend vorher die Treppe runter gestürzt, deshalb wollten sie sicher gehen, dass er keine Blutung im Kopf hat. Anschliessend wurde er in eines der Zimmer auf der Notfallstation gebracht. Ich war froh, dass wir nicht wie viele andere draussen auf dem Korridor warten mussten – oder war das ein Zeichen dafür, dass es sich eben nicht «blos um einen gebrochenen Arm» handelt? Das CT war unauffällig. Weitere Tests wurden durchgeführt. So wurde er positiv auf Influenza A getestet, was nicht weiter erstaunlich war und uns auch nicht beunruhigt hat, es ist ja blos die Grippe. Eine Lumbalpunktion wurde gemacht, um zu sehen, ob eine aktive Infektion, also Viren oder Bakterien im Hirnliquor vorhanden sind. Aber auch hier wurde nichts gefunden. Somit war klar, dass Kortison eingesetzt werden kann. Der Arzt meinte zuerst, er wolle ihn noch etwas beobachten und wenn sich sein Zustand verschlechtere, kriege er Kortison. Aber es dauerte nicht lange, da kam er wieder mit dem Kortison. Er wollte doch nicht mehr warten. Uns wurde erklärt, dass das Standardprozedere in solchen Fällen sei, dass man 5 Tage in Folge jeden Tag eine «Elefantendosis» Kortison verabreiche um die Entzündung, die sie im Hirn vermuteten einzudämmen. Ich fragte, ob sie denken, dass er über Nacht bleiben müsse. Ja, sie hätten bereits ein Platz in einem Zimmer für ihn vorbereitet und ich könne auf einem Klappbett neben ihm schlafen. Er bleibe aber bis zum Schichtende noch auf der Notfallstation, weil er da enger überwacht werden könne.
Um 19.00 Uhr hiess es dann, dass er jetzt verlegt werde. Aber nicht wie ursprünglich geplant auf die normale Abteilung, sondern auf die Intensivstation. Ich hatte mich gerade an den Gedanken gewöhnt, dass es so ernst ist, dass er über Nacht bleiben muss, und dann legen sie noch eine Schippe drauf. Es war beunruhigend, dass er auf die IPS musste und zugleich auch beruhigend, weil ich wusste, dass es im Spital keinen Ort gibt, wo er enger überwacht wird als hier. Für meinen Mann wurde es Zeit nach Hause zu gehen zu Ariels Brüdern. Es ist ihm nicht leichtgefallen, Ariel zu verlassen. Aber er ist nicht unser einziges Kind.

Intensivstation (IPS)

Ich blieb bei Ariel. Wir hatten noch keine Diagnose. Sie suchten möglichst breit in alle Richtungen nach der Ursache für seine Symptome. Ein MRI, welches zuerst für Montag früh geplant war, wurde dann doch schon am Sonntagabend gemacht. Dafür brauchte es eine Vollnarkose. Intubiert und sediert kam er dann auch vom MRI zurück. Der Plan war es, ihn über Nacht noch sediert zu lassen, damit sein Hirn mehr Ruhe und Erholung hat. Das MRI hat gezeigt, was vermutet worden war. Ariel hatte mehrere kleine Entzündungsherde im Hirn. Die genaue Analyse der Bilder war aber noch ausstehend.
In dieser Nacht habe ich nur zweimal für je 2 Stunden geschlafen. Dazwischen bin ich immer wieder zu Ariel gegangen und habe seine Hand gehalten und mit ihm gesprochen. Ich hätte ihm so gerne über den Kopf gestrichen, aber da war kein Platz. Überall Schläuche, Drähte und Maschinen. Seine
Unterarme waren auch eingebunden und mit Venenkatheter versehen. Es blieben nur noch die Hände und die Beine für Berührungen frei. In Haar und Kopfhaut steckten Nadeln eines «mini Dauer- EEGs», auf der Stirn klebten zwei grosse schwarze Badges, die zu einer neuen Maschine gehörten, die sich noch in der Testung befand. Wenn ich das richtig verstanden habe, soll sie die Sauerstoffsättigung im Hirn messen. Die Magensonde durch die Nase, der Tubus durch den Mund, das EKG auf der Brust und die venösen Zugänge an den Armen. Ein Anblick, den man nicht so schnell
vergisst.

Montag – 1. Tag auf der IPS.

An diesem Tag haben die Ärzte begonnen Ariel mit Vitaminen IV zu behandeln, weil eine mögliche Ursache für seine Symptome eine Stoffwechselkrankheit sei, die Vitaminmangel zur Folge habe. Die Diagnose für diese Krankheit dauere 1-2 Wochen. (Ariel hat die Vitamine erhalten, bis die Krankheit definitiv ausgeschlossen werden konnte.) Die Ärzte tappten immer noch im Dunkeln. Ein Arterienzugang und ein Zentral-Venen-Katheter wurden gelegt, damit man einfacher Blut nehmen konnte für all die verschiedenen Tests, die gemacht wurden.

Der Plan war auch, Ariel aufzuwecken, damit sein Zustand besser eingeschätzt werden und er nach Möglichkeit extubiert werden könne.

Da die Ursache für die Hirnentzündung noch nicht klar war, gab es auch nicht viele Behandlungsmöglichkeiten. Nicht dass sich das später geändert hätte. Aber für den Moment erhielt Ariel einfach die Vitamine und weiterhin die tägliche Elefantendosis Kortison. Ob das Kortison wirklich etwas nützt, weiss man nicht so genau, aber man gibt es einfach in der Hoffnung, dass es nützt. Ansonsten wurde einfach sogenannte «brain protection» gemacht. Das bedeutet, man macht alles, damit das Hirn möglichst wenig Schaden nimmt. Z.B. Kopf hoch lagern, damit der Druck möglichst tief bleibt, die Körpertemperatur möglichst tief halten usw.

Obwohl bereits am Montag Mittag die Medikament (Sedativa) abgesetzt worden sind, ist Ariel nicht aufgewacht.

Es ist ein Scheissgefühl, wenn man sein Kind so da liegen sieht. Niemand kennt die Ursache, niemand weiss, was noch kommen wird und aus medizinischer Sicht gibt es nichts, das man tun kann.

Dienstag – 2. Tag auf der IPS.

In der Nacht auf Dienstag öffnete Ariel zwischendurch seine Augenlider, aber seine Augen waren noch verdreht. Meine Hand hat er mit leichtem Druck gehalten. Er war noch am Beatmungsgerät angeschlossen, atmete aber wieder selbstständig, seit er etwas wacher geworden war. An diesem
Dienstagnachmittag hatten wir ein ausführlicheres Gespräch mit dem Arzt. Er erklärte uns, dass sie die Ursache für die Hirnentzündung jetzt auf zwei mögliche Ursachen eingegrenzt hätten. Das eine war diese Stoffwechselkrankheit, die den Vitaminmangel zur Folge gehabt hätte und das andere war
ANE. Keines von beiden wünscht man sich. Deshalb wurde er auch weiterhin mit Vitaminen und Kortison behandelt. Um festzustellen, ob eine genetische Mutation vorliegt, die ANE begünstigt, wurde ein DNA-Test angeordnet. Damit die Ergebnisse schneller vorliegen, haben auch mein Mann
und ich uns testen lassen. Weiter hat der Arzt uns gesagt, dass man noch nicht viel über den weiteren Verlauf sagen kann. Klar sei, dass Ariels Hirn Schaden genommen habe. Stopp, halt, nochmals, was hatte der Arzt da gerade gesagt? Sein Hirn hat Schaden genommen? Das ist nicht «nur» eine Entzündung, das Hirn geht dabei kaputt? Ich spürte wie mir alles Blut aus dem Gesicht wich und ich musste mich vergewissern, dass ich richtig gehört hatte. Aber es wurde mir bestätigt. Das Hirn war beschädigt. Was genau, wie stark und ob es reversibel ist, konnte man nicht sagen. Das würde sich zeigen, wenn er aus dem Koma erwacht – wenn er denn überhaupt erwacht. Dies war der erste Hammer, der auf mich niederkam. Der zweite: Der Arzt sagte, dass wir uns in jedem Fall auf mehrere Wochen Spitalaufenthalt gefolgt von mehreren Monaten stationärer Rehabilitation einstellen müssen. Ich weiss, das ist total naiv, aber ich bin irgendwie immer davon ausgegangen, dass es sich so um 3-4 Tage Spitalaufenthalt handeln werde und dann ist alles wieder gut. Am Sonntag dachte ich noch, dass wir ihn vielleicht wieder mit Nachhause nehmen können. Dass daraus eine so lange Zeit werden könnte, wäre mir nicht in den Sinn gekommen. Jetzt mussten wir neben den Sorgen um das Leben und die Gesundheit unseres Sohnes auch noch dieses logistische Monster lösen.

Wir verblieben so, dass ich bei Ariel blieb und mein Mann wieder arbeiten ging und zu den anderen Kindern schaute. Tagsüber waren sie in der Schule. Die Betreuung über Mittag und an freien Nachmittag konnten wir mit Schulkammeraden, Nachbarn und Grosseltern abdecken. An den
Wochenenden kehrten wir es um. Ich schlief für eine bis zwei Nächte Zuhause bei den grossen Jungs (Massenlager im Ehebett) und konnte waschen und mich mit frischer Wäsche für die kommende Woche eindecken.

Wir und die Ärzte konnten nichts tun, ausser zu warten. Der Arzt hat gesagt, alles was sie noch tun können, ist warten und beten. Klar war, je schneller Ariel aufwacht, umso besser waren seine Chancen. Das haben wir dann auch getan. Gewartet und gebetet. Mich daran erinnert, wie Ariel war. Wie er gelacht hat, gesungen hat und umhergesprungen ist. Wie er Velo gefahren ist und er war dabei Skifahren zu lernen und konnte schon fast schwimmen. Er liebte es zu kuscheln, aber ich konnte ihn kaum irgendwo berühren und ich durfte ihn nicht halten (wegen des Tubus). Wie gerne
hätte ich ihm die benötigte Geborgenheit gegeben. Das war hart.

Wir mussten lernen einen Tag nach dem anderen zu nehmen und zu schauen, was er mit sich bringt. Und das für die folgenden Wochen und Monate. Keine Prognose, die man machen könnte. Es kann alles oder nichts geschehen und natürlich auch alles dazwischen.

Mittwoch – 3. Tag auf der IPS

Ariel schlief noch viel, öffnete aber immer wieder einmal die Augen. An diesem Tag versuchten die Ärzte zum ersten Mal, den Tubus zu entfernen. Ein heikler Moment, vor allem deswegen, weil nicht klar war, ob Ariel genügend Spannung in der Rachenmuskulatur hat, dass er Schlucken kann und
sicher nicht Speichel oder ähnlich aspiriert. Alles ist gut gegangen, Ariel hat selbstständig geatmet und der Schluckreflex hat gut funktioniert. Ein Freudentag! Die erste Maschine sind wir losgeworden. Man konnte Ariel ansehen, wie es ihm viel wohler war. Vorhin hatte er immer wieder die Beine ganz durchgestreckt, jetzt war er viel entspannter. Ich denke, dass dieses Durchstrecken sein Versuch war den Tubus zu entfernen, aber er hatte keine Kontrolle über seinen Körper.

Auf Anraten des Pflegepersonals hatten wir ein paar Bilder von Ariel und seinen Brüdern und unseren Hunden aufgehängt. Sie meinten, es würde ihm gefallen vertraute Gesichter zu sehen und dem Personal würde es helfen, Ariel besser kennenzulernen. Und sie hatten Recht. Ariel hat die Bilder
immer wieder angeschaut.

Donnerstag – 4. Tag auf der IPS

Ein weiterer Meilenstein war geschafft. Das «Mini EEG» und die Überwachung der Sauerstoffsättigung des Hirns konnten weggelassen werden. Wieder zwei Maschinen weniger und endlich konnte ich Ariel wieder über den Kopf streichen. Ein vollständiges EEG wurde gemacht, sie wollten ganz sicher gehen, dass Ariel keine Krämpfe hatte. Obwohl diese Krämpfe typischerweise zum Krankheitsbild von ANE gehören, ist Ariel immer davon verschont geblieben (Halleluja!). Noch am gleichen Tag konnte Ariel auf die Intermediate Care (IMC) verlegt werden. Die etwas weniger intensive Intensivstation. Es war kein weiter Weg und sie hatten das Bett extra ganz langsam geschoben, aber das war bereits extrem anstrengend für ihn.

Wir waren für 6 weitere Tage auf der Intermediate Care. Ariel machte täglich kleine Fortschritte. Er versucht zu sprechen, aber es kommt nur ein stimmloses «ph» raus. Als ich ihn fragte, ob er versucht hat zu sprechen, läuft ihm eine Träne die Wange runter. Am meisten Leben kam in ihn, wenn er von seinen Brüdern besucht wurde. Da waren auf einmal Dinge möglich, die er vorhin nicht gemacht hatte.

Allgemeine Abteilung

Schliesslich konnte er auf die normale Station verlegt werden. Da erhielten wir dann auch das Ergebnis, dass es nicht diese Stoffwechselkrankheit sei. Somit stehe die Diagnose fest, Ariel hat ANE. Aber wir wissen doch noch gar nicht, ob er diese Genmutation hat? Das sei nicht so wichtig. ANE
kann man mit oder ohne Genmutation kriegen. Die Diagnose wurde auf Grund der MRI-Bilder (ANE Patienten zeigen ein sehr charakteristisches Entzündungsmuster im Hirn) und dem Ausschluss anderer Möglichkeiten gestellt. Später als wir schon in der Reha waren, haben wir erfahren, dass
mein Mann und Ariel die RANBP2 Mutation haben.

Ich sehe diese Szenen, wie alles begann, immer wieder vor mir. Was für ein Horror! Was muss das für ein beängstigendes Gefühl sein, wenn du realisierst, dass du langsam, aber sicher immer mehr die Kontrolle über deinen Körper verlierst!

Und jetzt ging es darum, Schritt für Schritt die Kontrolle über seinen Körper wieder zurückzugewinnen. Sich drehen lernen, aufsitzen, das Essen im Mund nach hinten transportieren und das Schlucken. Während wir im Spital darauf warteten, dass in der Kinderreha ein Platz frei wurde, hat Ariel Physio-, Ergotherapie und Logopädie erhalten. Wobei es in der Logopädie zunächst einmal darum ging, wieder essen und schlucken zu lernen, damit er die Magensonde nicht mehr braucht. Den Mund öffnen, war mehr oder weniger die einzige Bewegung, die er zuverlässig und bewusst machen konnte. Dies machten wir uns zu nutzen, es war seine einzige Möglichkeit zu kommunizieren. Wir stellten Fragen, die mit Ja oder Nein beantwortet werden konnten. Mund auf bedeutete JA und keine Reaktion bedeutete NEIN. Wer jetzt denkt, er hätte für NEIN ja einfach den Kopf schütteln können, muss ich eines Besseren belehren. Kopf schütteln war zu schwierig.

 

“Und da war natürlich noch die Tier unterstützte Therapie mit Hunden (Ergo) und Pferden (Physio), da war er mit mindestens 100% Engagement dabei.” 

Reha

Am 5. März 2019, rund 20 Tage nach Spitaleintritt, konnte Ariel in die Reha umziehen. Zu dem Zeitpunkt war es ihm möglich sich im Liegen zu drehen und manchmal ist es ihm gelungen sich in eine Sitzende Position hochzuhieven. Er konnte über eine Distanz von 2 Metern auf allen Vieren kriechen. Er konnte wieder nach einem Duplo-Legostein greifen, hatte aber Mühe, ihn richtig auf einem anderen zu platzieren. Wir konnten ihn mit pürierter Kost füttern und er war in der Lage genügend eingedickte Flüssigkeit zu sich zu nehmen, so dass die Magensonde entfernt werden konnte.

In der Reha hatte Ariel täglich mehrere Stunden Therapie. Physiotherapie, Ergotherapie, Logopädie, Neuropsychologische Therapie und Abklärungen. Alles läuft über das Spiel. Nur so konnte er zum Mitmachen motiviert werden. Sobald er merkte, dass jemand ihn testet oder herausfinden möchte, was er alles kann und was nicht, hat er sich komplett verweigert. Und da war natürlich noch die Tier unterstützte Therapie mit Hunden (Ergo) und Pferden (Physio), da war er mit mindestens 100% Engagement dabei. Wir sind enorm dankbar für diese gute Kinderrehaklinik, die wir hier haben. Für das tolle und vielseitige, hochmoderne Therapieangebot und das herzliche Engagement der einzelnen Therapeuten.

 

Drei Monate haben wir in dieser Klinik verbracht. An den Wochenenden durfte ich Ariel jeweils mit nachhause nehmen. Wir konnten von der Klinik einen Rollstuhl leihen und zum Glück war Ariel noch so leicht, dass wir ihn und danach den Rollstuhl die Treppe hochtragen konnten. Sonst hätten wir ihn am Wochenende noch nicht nach Hause nehmen können, weil unser Haus nicht rollstuhlgängig ist. Wenn wir etwas gelernt haben in dieser Zeit mit und nach ANE, dann dass einem nichts anderes übrigbleibt, als ein Tag nach dem anderen zu nehmen. Niemand hat gewagt eine Prognose zu stellen, welche Fähigkeiten er wieder erlangen wird und welche nicht. Es hiess immer: erst wenn er eine Fähigkeit wieder erlernt hat, wissen wir, dass er fähig ist diese Fähigkeit wieder zu erlernen. Also haben wir einen Tag nach dem anderen genommen und uns über jeden noch so kleinen Fortschritt gefreut. (siehe Übersicht Meilensteine)

Das körperliche ist das eine. Aber da ist auch noch die psychische Seite der Geschichte. Die Zeit in der Reha war sehr herausfordernd. Ariel ist ein Kämpfer und eine Frohnatur. Das hat ihm in dieser Situation sehr geholfen. Dennoch war es eine Zeit mit Wutausbrüchen, Frustration, Trauer, Kampf,
Unverständnis, Freude über kleine Erfolge, aber vor allem auch ganz viel Heimweh. Ariel hat sein Zuhause, seine gewohnte Umgebung und ganz speziell seine Brüder unheimlich vermisst. Abend für Abend hat er sich in den Schlaf geweint. Natürlich gab es solche und solche Tage. Dies alles
mitzutragen und abzufangen und dabei selber mit ganz ähnlichen Emotionen klarzukommen, empfand ich als etwas vom Schwierigsten. Die körperlichen Defizite, die ANE bei Ariel verursacht hatte, waren offensichtlich. Aber, dass diese Hirnentzündung ihn auch in der psychischen Entwicklung zurückgeworfen hatte, das wurde mir erst mit der Zeit bewusst. Er hatte so gut wie keine Kontrolle mehr über seine Emotionen. Ein Beispiel aus der Zeit in der Reha: ein inzwischen 5- Jähriger hat normalerweise kein Problem damit zu verstehen, dass man ein Spielgerät abwechslungsweise mit einem anderen Kind nutzen kann. Er freut sich vielleicht nicht darüber, dass er warten muss, aber er versteht, dass jetzt das andere Kind an der Reihe ist. Das war bei Ariel nicht mehr so. Er durfte beginnen und dann wäre das andere Kind an der Reihe gewesen. Das hat zu einem Wutausbruch der Extraklasse geführt. Das war nicht der erste und noch lange nicht der letzte. Diese Wutausbrüche haben uns auch nach der Reha noch bis zu einem Jahr begleitet. Sie sind mit der Zeit immer weniger geworden und schliesslich ganz verschwunden. Diese Wutausbrüche abzufangen, auszuhalten und irgendwie zu managen hat uns Eltern enorm viel gekostet, es hat uns total ausgelaugt. Wir waren jeweils für mindestens zwei Stunden nach dem Anfall nicht mehr zu gebrauchen. Man kann sich das wahrscheinlich gar nicht vorstellen, wenn man es nicht erlebt hat.

 

Die Zeit nach der Reha

Nach drei Monaten in der Reha wurde Ariel endlich von seinem Heimweh erlöst. Der grosse Tag war da und wir durften endgültig nach Hause zurückkehren. Die Freude war gross, aber diese Rückkehr war nicht nur einfach. In der Reha haben wir in einer Art Blase gelebt. Hatte er einen Wutausbruch, hat deswegen niemand die Augen verdreht oder den Kopf geschüttelt. Allen war klar, dass diesspezielle Umstände sind. Ich konnte mich in der Reha ganz auf Ariel konzentrieren und auf meine Trauer, mein Verarbeiten des Ganzen. Ich konnte mich mit anderen Müttern austauschen, die in ähnlichen Situationen waren. Zuhause wurde ich vom Alltagsleben eingeholt. Das Umfeld erwartet, dass man funktioniert und leistet. Wir sind ja jetzt wieder Zuhause und alles ist gut. Das war auch ganz klar Ariels Meinung. «Ich bin wieder Zuhause, jetzt bin ich wieder gesund und alles geht weiter, wie vor der Krankheit». Aber es war nicht einfach alles gut, nur weil wir wieder Zuhause waren. Das musste auch Ariel lernen. Es wurde ihm im Alltag immer wieder vor Augen geführt. Immer wieder hat die Realität ihm schonungslos seine Defizite aufgezeigt. Er konnte wieder gehen, war aber noch etwas wackelig auf den Beinen. Er konnte wieder sprechen, aber nur undeutlich. Fremde oder andere Kinder haben ihn nicht verstanden. Seine Reaktionsfähigkeit war stark verzögert. Er hatte keine Chance bei einem Fangen mitzuspielen. Er konnte es noch immer nicht aushalten zu verlieren, dies hat schnell zu Wutanfällen geführt. Seine Brüder haben relativ schnell gelernt die Zeichen richtig zu deuten und das Spiel so zu lenken, dass es für Ariel auch ging. Aber das war für sie sehr anstrengend und herausfordernd. Für längere Zeit waren seine Brüder seine einzigen Spielgefährten.
Es war wichtig, dass sie immer wieder Auszeiten hatten, in denen sie für sich alleine oder mit Schulkollegen spielen konnten, ohne auf Ariel Rücksicht nehmen zu müssen. Die Therapien waren natürlich deutlich weniger als in der Reha, aber sie bestimmten immer noch unseren Wochenplan. Ariel konnte nicht mehr zurück in seinen früheren Kindergarten. Er und die Lehrpersonen waren überfordert. Er konnte an die Heilpädagogische Schule wechseln. Das war längere Zeit schwierig für ihn. Er wollte wieder zurück in seinen früheren Kindergarten. Er wollte, dass das Leben wieder so wird, wie es vor seiner Krankheit war. Nach einer ersten Phase der Verleugnung (er hat gesagt, er sei nicht krank), folgte eine Phase mit viel Traurigkeit und
Niedergeschlagenheit.

3.5 Jahre nach ANE

Heute (3.5 Jahre nach ANE) ist er in seinem «neuen Leben» angekommen. Er hat akzeptiert, dass er nicht alles gleich machen kann wie andere Kinder. Er hat seine neue Schule schätzen gelernt und geht sehr gerne hin. Er ist wieder glücklich! Das ist für mich das Wichtigste.

Ja, er hat Defizite zurückbehalten. Gleichgewicht, Motorik, Sprache, Orientierung im Raum, geistige Defizite. Man könnte fast sagen, von allem ein bisschen. Man tendiert schnell dazu ihn wegen seiner undeutlichen Sprache und der körperlichen Defizite wie einen kleinen Jungen zu behandeln. Aber das ist er nicht mehr und seine Hirnverletzung macht ihn auch nicht dumm. Er versteht sehr viel. Er hat sich ein grosses Wissen über Tiere und Pflanzen angeeignet, indem er naturwissenschaftliche Hörbücher für Kinder gehört hat. Wir sehen noch immer Fortschritte. Bereits in der Reha hat man uns gesagt, dass die Erfolgskurve üblicherweise am Anfang steil nach oben geht und dann immer mehr abflacht. Die Kurve ist abgeflacht. Aber es ist ermutigend zu sehen, dass auch gut 3 Jahre nach der Krankheit immer noch Fortschritte möglich sind. Das letzte Wort ist noch nicht gesprochen.

Die Meilensteine

(seit Spitaleintritt):

Nach 2 Tagen: erste Anzeichen, dass er wach wird

Nach 3 Tagen: Tubus wurde entfernt (eine Maschine weniger!)

Nach 4 Tagen: 2 weitere Maschinen weniger, Wechsel von der IPS in die IMC

Nach 5 Tagen: Wechsel vom Bett in Bodenpflege (2 Mattratzen auf dem Boden umgeben von einer
gepolsterten Holzwand), wir konnten ihn das erste Mal wieder im Arm halten! Endlich wieder Kuscheln. Ariel schaut sich gerne die Fotos von den Brüdern an.

Nach 7 Tagen: Ariel sitzt zum ersten Mal im Rollstuhl. Er übt fleissig das Drehen vom Rücken in die Seitenlage. Mit wenig Hilfe schafft er es.

Nach 8 Tagen: Selbständiges Drehen von Rücken- in Bauchlage. Mit der Logopädin 1 Löffel Apfelmus gegessen.

Nach 9 Tagen: erstes Lachen. Es kommt wieder Leben in seine Gesichtszüge. Das MRI für die Verlaufskontrolle zeigt, dass die Entzündung deutlich zurückgegangen ist. Es sind keine offensichtlichen Veränderungen erkennbar, die auf einen bleibenden Schaden hindeuten. Was aber noch nicht heisst, dass er keine bleibenden Schäden haben wird. Umzug auf die normale Abteilung.

Nach 11 Tagen: Ariel isst eine ganze Mahlzeit (pürierte Kost, er musste gefüttert werden). Wir dürfen jetzt jeden Tag für eine kurze Zeit mit dem Rollstuhl an die frische Luft. Ariel blüht sichtlich auf.

Nach 12 Tagen: Ariel kann seine Arme immer gezielter bewegen. In der Ergotherapie kann er die Hand auf den Kopf einer Plüsch-Schildkröte legen

Nach 13 Tagen: Ariel kann sich beim Essen zum ersten Mal wieder die Lippen sauber lecken.

Woche 3: Ariel zieht sich die Magensonde. Es gelingt uns, genügend eingedickte Flüssigkeit in ihn hineinzukriegen, so dass keine neue Sonde gelegt werden muss. Er schafft es, sich alleine in den Kniestand hochzuziehen, kann sich immer besser aufsetzen. Greifen geht mit links schon recht gut, rechts ist es noch etwas schwieriger. Ein erneutes EEG ist unauffällig.

Woche 4: Umzug in die Reha. Ariel kann sich nun schon schnell aufsetzen und kann sich in den Kniestand hochziehen. In der Physio hat er auf allen Vieren kriechen geübt. Er greift gezielt nach Duplolegosteinen, kann sie aber noch nicht selber zusammenstecken. Er kann sich zum ersten Mal selber in den Stand hochziehen, übt schon erste Schritte zu gehen und selbstständig in den Rollstuhl zu klettern und wieder raus. Er kann wieder mit einem Strohhalm trinken. Das Eindicken der Flüssigkeit ist nicht mehr notwendig.

Woche 5: Ariel geht mit Stützhilfe 8 Meter. Er spricht wieder erste kurze Wörter. Er lernt mit dem Rollstuhl zu fahren und zu steuern.

Woche 6: Ariel kann mit Hilfe immer weitere Strecken gehen und auch Treppenstufen überwinden. Er wirft zum ersten Mal wieder einen Ball.

Woche 7: Ariel macht wenige Schritte auch ohne Hilfe. Er kann immer mehr Worte sagen. Sein Sehvermögen scheint eingeschränkt zu sein. Er leidet immer häufiger unter Heimweh.

Woche 8: Beim Fussballspielen mit den Brüdern steht Ariel alleine auf, geht 2-3 Schritte und tritt den Ball! Ariel beginnt mit Hippotherapie. Er kann schon 8 Schritte frei gehen

Woche 9: Ariel spricht immer mehr. Er kann kleinere Strecken zu Fuss zurücklegen. Der Reha-Spielplatz kann ohne Rollstuhl besucht werden. Sein Kommentar dazu: «jetzt kann ich wieder nach Hause».

Woche 10-16: Ariel besucht fleissig die Therapien und macht weiter Fortschritte. In der Zwischenzeit planen wir den Austritt aus der Reha und versuchen die Therapien für Zuhause zu organisieren.

Nach 4 Monaten: Endlich Zuhause!